Die Zeit vor dem Schlafengehen ist einer der kostbaren Momente, den wir mit unseren Kindern teilen dürfen.
Kigunage, 2012
Bei unruhiger stürmischer See segelten der Käpt'n und seine Männer mit dem gekaperten spanischen Schiff zur Insel St. Lucia. Sie hatte alle Hände voll zu tun. Ein so großes Schiff mit nur fünf Mann zu segeln, dazu war eine wirklich einzigartige Mannschaft und der allerbeste Kapitän notwendig.
Es war also nicht verwunderlich, dass ihnen keine Zeit blieb, sich die Ladung des Schiffes genauer anzusehen. Die Statue des Gottes Camu hatten die Männer auf den ersten Blick entdeckt. Sie lag ganz oben auf einer der Schatzkisten. Die wichtigste Fracht befand sich also an Bord. Alles, was sich darüber hinaus im Laderaum befand, wollten die Männer den Spaniern eigentlich nicht wegnehmen, aber ihre überstürzte Flucht hatte ihnen keine Wahl gelassen.
Als sie einige Tage später vor St. Lucia den Anker warfen, regnete es in Strömen. Wie bei ihrer Abreise war der Himmel noch immer dunkel und wolkenverhangen. Ihr sonniges Inselparadies hatte sich vollkommen verändert. Mindestens die Hälfte des schönen Sandstrands war bereits überflutet und im Meer verschwunden. Der übrige Teil präsentierte sich trostlos und menschenleer. Weit und breit war niemand zu sehen. Und keiner der Inselbewohner kam, um sie zu begrüßen.
Als die Insulaner das spanische Schiff entdeckt hatten, das Kurs auf die Insel nahm, hatten alle sich versteckt. Niemand ließ sich blicken, denn sie glauben, die feindlichen Spanier wären noch einmal zurückgekommen. Erst nachdem sie den Käpt'n und seine Männer am Strand erkannt hatten, kamen sie angerannt.
„Ihr habt es geschafft!“, jubelte der weise Mann des Dorfes, als Käpt'n Silberbart ihm freudestrahlend die Statue des Gottes Camu überreichte.
„Wenn es diese unerklärlichen Dinge, von denen der alte Mann gesprochen hat, wirklich gibt, dann ist St. Lucia jetzt gerettet“, dachte der Käpt'n zufrieden.
Camu war wieder Zuhause und konnte die Insel vor allem Unheil beschützen. Die Sonne würde den Regen und die dunklen Wolken bald vertreiben. Die Statue musste nur noch zurück an ihren Platz gebracht werden.
Nachdem die erste Wiedersehensfreude vorbei war, brachten der Käpt'n und seine Männer die gestohlenen Schatzkisten an Land. Sie würden sie in der Höhle auf dem Gipfel des erloschenen Vulkans verstecken. Und dann wollten sie sofort zurück nach Cartagena segeln, um die Seeschwalbe zu holen.
Weil das Ruderboot schon voll beladen gewesen war, war Käpt'n Silberbart alleine an Bord des Schiffes zurückgeblieben. Er wartete darauf, dass Klops zurückkam, um ihn zu holen. Nur noch zwei große Kisten standen jetzt im Laderaum der Galeone. Eine davon war besonders riesig.
„Die beiden Kisten, die uns nicht gehören, werden wir an Bord lassen“, dachte der Käpt'n, als er plötzlich ein seltsames Geräusch hörte.
Ein Kratzen? Ein Scharren?
Hatte er sich getäuscht, oder kam dieser ungewöhnliche Laut aus einer der beiden Kisten? Neugierig versuchte er, die Kisten zu öffnen. Alle beide waren jedoch fest verschlossen. Um sie aufzubrechen, brauchte man Werkzeug, aber das war an Bord nicht zu finden.
„Am einfachsten wäre es, die Kisten mitzunehmen und sie an Land zu öffnen“, überlegte Käpt'n Silberbart.
Und als Klops schließlich zurückkam, verluden sie die beiden Kisten ins Boot und ruderten zurück zum Strand.
Vom Rest der Mannschaft umringt, öffnete Klops den Deckel der ersten Kiste. Die merkwürdigen Gegenstände, die sie darin fanden, lieferten ihnen keine Erklärung für das sonderbare Geräusch, das der Käpt'n gehört hatte.
Erst als Klops die größere, zweite Kiste öffnete, war das Geheimnis gelüftet. Der Inhalt dieser Kiste war lebendig! Darin saß eine riesige Schildkröte. Obwohl die Schildkröte tagelang eingesperrt gewesen war, schien sie gesund und munter zu sein. Aber als der Deckel geöffnet wurde, zog sie sofort den Kopf und die Beine ein und verschwand in ihrem Panzer.
„Alle Schildkröten tun das, wenn sie denken, dass ihnen Gefahr droht“, erklärte Hinkebein seinen Freunden.
Mit etwas Geduld und frischem Futter schaffte Lulatsch es schließlich, sie wieder aus ihrem Panzer hervorzulocken. Die Schildkröte ließ es sich schmecken und ihre Angst war augenblicklich verschwunden.
„Die Sachen aus der anderen Kiste können wir uns im Trockenen genauer ansehen“, entschied Käpt'n Silberbart.
Es regnete noch immer ununterbrochen, als die Männer die Kisten in der trockenen Hütte abstellten. Neugierig nahm Hinkebein das erste Teil in die Hand. Es sah so ähnlich aus wie ein Buch. Allerdings hatte es keinen Umschlag und auch keine einzelnen Seiten. Es bestand aus einem einzigen Blatt, das so gefaltete war, dass es wie ein mehrseitiges Buch aussah.
„Kann einer von euch lesen, was hier steht?“, fragte Hinkebein und reichte es seinen Freunden.
Aber die merkwürdigen Zeichen und Bilder ergaben für keinen der Männer einen Sinn. Und dieser rätselhafte Inhalt verlieh dem sonst eher unscheinbaren Faltbuch eine sehr geheimnisvolle Wirkung.
Beim nächsten Gegenstand handelte es sich ganz offensichtlich um eine Zeichnung. Doch auch dieses Fundstück war ähnlich mysteriös. Hinkebein vermutete, dass es sich um eine Bauanleitung oder etwas Ähnliches handelte. Es waren Kreise und Maßangaben zu erkennen, deren Bedeutung nicht einmal Hinkebein verstehen konnte. Egal wie lange die Männer die Zeichnung betrachtete, weder die Kreise noch die Maßangaben schienen irgendeinen Sinn zu ergeben.
Der letzte Gegenstand hatte nichts Rätselhaftes. Es war die Statue eines Kriegers. Sie war sehr groß und schwer, nicht besonders kunstvoll gefertigt, aber dafür aus einem sehr wertvollen Material. Die Figur glänzte in purem Gold und aus diesem Grund hatten die Spanier sie vermutlich gestohlen.
Ganz unten in der Kiste lag noch eine Karte. Beinahe hätten die Männer sie übersehen, denn sie war unter die Statue gerutscht. Es handelte sich nicht um eine komplizierte Seekarte, sondern es war eine recht einfache Landkarte. Und Käpt’n Silberbart erkannte auf den ersten Blick, welcher Teil der Welt darauf abgebildet war. Nichts Ungewöhnliches also - mit Ausnahme der Nummern, mit denen einige Orte gekennzeichnet waren. Schnell stellte sich heraus, dass die Nummern auf der Karte
mit denen an den Gegenständen identisch waren. Sogar die Schildkröte hatte eine Nummer. Das mussten die Orte sein, an denen die Spanier diese Dinge gestohlen hatten. Die Karte hatte sie bestimmt dorthin geführt. Welchen anderen Sinn sollte sie sonst haben!
Den Käpt'n und seine Männer interessierte das nicht sonderlich. Sie freuten sich darauf, draußen am Feuer zu sitzen, etwas Gutes zu essen und ihren Freunden von ihrem Abenteuer in Cartagena zu erzählen. Zu dumm, dass das Wetter noch immer nicht besser geworden war. Die Statue von Camu musste längst zurück an ihrem Platz sein. Aber warum regnete es dann immer noch? War die Sache mit der Statue doch nur Aberglaube gewesen und St. Lucia war einfach nur ungewöhnlich schlechtem Wetter ausgesetzt?
Bevor der Käpt'n weiter darüber nachdenken konnte, kam der weise Mann des Dorfes in seine Hütte. Er sah ratlos aus und die Sorgenfalten in seinem Gesicht waren nicht zu übersehen. Als er die seltsamen Gegenstände bemerkte, die auf dem Boden ausgebreitet lagen, wurde er kreidebleich. Bevor Käpt'n Silberbart fragen konnte, was das zu bedeuten hatte, stürmte er aus der Hütte und rannte laut klagend durch das Dorf.
„Hast du verstanden, was los ist?“, fragte der Käpt'n seinen Freund Hinkebein und warf ihm einen fragenden Blick zu.
Aber Hinkebein zuckte nur verständnislos mit den Schultern. Für alle sprachlichen Schwierigkeiten war Einauge der Experte, denn sein sensationelles Sehvermögen war nicht seine einzige außergewöhnliche Fähigkeit. Er besaß eine besondere Sprachbegabung. Einauge beherrschte eine Vielzahl fremder Sprachen und erlernte neue in kürzester Zeit. Jetzt war sein ganzes Können gefragt, denn das, was der weise Mann den Dorfbewohnern aufgeregt und verzweifelt zurief, war schwierig zu verstehen.
Es hörte sich an wie eine unglaubliche, sehr fantasievolle Geschichte. Der alte Mann behauptete, dass St. Lucia schon bald im Meer versinken würde, weil die Spanier auf ihrem Diebeszug wertvolle Heiligtümer der Schutzgötter geraubt hatten. In den Ohren von Käpt'n Silberbart und seinen Männern klang das ziemlich verworren.
„Unsere Insel ist verloren. Nur, wenn diese Gegenstände möglichst schnell wieder zurückgebracht werden, kann St. Lucia gerettet werden“, übersetzte Einauge.
Bildete der alte Mann sich dieses drohende Unheil nur ein? Käpt'n Silberbart und seine Männer konnten es nicht wissen. Aber es war ihnen zu riskant, abzuwarten, ob wirklich etwas passieren würde. Wenn der weise Mann tatsächlich recht hatte, wäre es zu spät, um die Insel vor dem Untergang zu bewahren. Sie mussten alle Zweifel beiseiteschieben und dem weisen alten Mann einfach vertrauen. Der Käpt'n und seine Männer würden nichts unversucht lassen, um ihre Freunde und St. Lucia zu beschützen.