Die Zeit vor dem Schlafengehen ist einer der kostbaren Momente, den wir mit unseren Kindern teilen dürfen.
Kigunage, 2012
Bis zum nächsten Morgen hatten die Männer alle notwendigen Vorbereitungen getroffen und die Seeschwalbe und ihre Mannschaft waren zum Auslaufen bereit. Schweren Herzens verabschiedeten sich Käpt'n Silberbart und seine Mannschaft von ihren Freunden.
„Kommt bald zurück und passt gut auf euch auf“, riefen die Inselbewohner ihnen hinterher.
St. Lucia und ihre Freunde zu verlassen, fiel ihnen nicht leicht. Die Arbeit an Bord des Schiffes sorgte jedoch für Ablenkung und schon bald fingen die Männer an, ihre Seefahrt zu genießen. Es tat gut, nach so langer Zeit den frischen Seewind zu spüren und die salzige Meeresluft zu atmen.
Käpt'n Silberbart hatte in der Nacht vor ihrer Abreise noch lange über seinen Seekarten gebrütet. Welchen Kurs könnte das spanische Schiff gewählt haben?
„Sie werden den Schatz auf dem schnellsten Weg nach Hause bringen“, sagte Hinkebein.
„Ja. Das denke ich auch. Wir nehmen Kurs auf Cartagena, Hinkebein“, befahl Käpt'n Silberbart.
Der Käpt'n musste seiner Erfahrung und seinem guten Gespür vertrauen. Und sein Gefühl sagte ihm, dass die spanischen Diebe diesen Kurs gewählt hatten. Denn bevor sie ihre weite Heimreise antreten konnten, mussten sie ihre Vorräte auffrischen. Und Cartagena, eine große Festungsstadt an der Küste Südamerikas, lag sozusagen auf dem Nachhauseweg. Ob Käpt'n Silberbarts Entscheidung richtig oder falsch war, würde sich schon bald zeigen.
Nach zwei Tagen auf See, war noch immer weit und breit kein Schiff zu sehen. Doch dafür passierte etwas wirklich Merkwürdiges: Die Kompassnadel spielte vollkommen verrückt. Sie drehte sich minutenlang wild im Kreis herum, um dann plötzlich wieder normal zu funktionieren. Der Käpt'n konnte sich das nicht erklären und selbst Hinkebein hatte keine Ahnung, warum das wichtige Navigationsgerät nicht richtig funktionierte.
„Könnte die Ladung an Bord des spanischen Schiffes schuld daran sein? Was denkst du, Hinkebein?“, wollte Käpt'n Silberbart wissen.
Hinkebein zuckte gerade mit den Schultern, als Einauge aus dem Ausguck rief: „Schiff in Sicht! Es ist die spanische Galeone, Käpt'n.“
Der nicht funktionierende Kompass und dann diese Entdeckung. Das konnte kein Zufall sein, da hatte der Käpt'n recht. Hinkebein hatte jedoch nicht die geringste Ahnung, welch seltsame Ladung sich an Bord des spanischen Schiffes befinden musste, die eine solche Fehlfunktion auslösen konnte. Das war wirklich sonderbar! Aber im Moment blieb ihm keine Zeit, weiter darüber nachzudenken.
„Segel reffen, langsame Fahrt und Abstand halten! Beeilt euch, noch haben die Spanier uns nicht entdeckt“, befahl Käpt'n Silberbart.
Zufrieden strich der Käpt'n sich über seinen silbergrauen Bart. Sein Gefühl hatte ihn auch dieses Mal nicht getäuscht. So wie er es vermutete hatte, nahmen die Spanier Kurs auf Cartagena.
„Wir können uns nicht auf ein Seegefecht einlassen. Die spanische Galeone ist ein zu mächtiges und schwer bewaffnetes Schiff. In einem Kampf hätten wir schlechte Chancen. Das Versprechen, unseren Freuden die Statue von Camu zurückzubringen, werden wir trotzdem halten!“, erklärte der Käpt'n seinen Männern.
Käpt'n Silberbart wusste noch nicht, wie sie das anstellen sollten, aber noch hatten sie ausreichend Zeit, um sich etwas auszudenken. Zumindest solange, bis sie in Cartagena waren. Die Lösung schwieriger Probleme durch gute Ideen war Hinkebeins Spezialität. Bis zu ihrer Ankunft würde ihm ganz sicher etwas einfallen.
Gezielt steuerte der Käpt'n die Seeschwalbe in eine kleine Bucht. Sie lag versteckt abseits des Hafens und doch in der Nähe der Stadt. Käpt'n Silberbart war bereits einige Male in Cartagena gewesen und erinnerte sich daher sofort an dieses gute Versteck.
„Ich habe eine Idee, wie wir den Spaniern ihre Beute abjagen können, ohne uns auf einen gefährlichen Kampf einzulassen“, verkündete Hinkebein.
Als sie den Anker warfen und an Land ruderten, wurde es bereits dunkel. Das kleine Ruderboot deckten sie mit Zweigen und Ästen zu. So konnte man es nicht sofort sehen. Dann machten die Männer sich auf den Weg in die Stadt.
Die Häuser von Cartagena lagen rund um eine Bucht. Mehrere kleinere Inseln grenzten das Hafenbecken vom Meer ab. Eine beeindruckende Festungsanlage schützte die Stadt vor Angriffen. Zur Einfahrt ins Hafenbecken musste jedes Schiff die gut bewaffneten Befestigungen passieren. Wäre die Seeschwalbe den Spaniern bis in den Hafen gefolgt, dann säßen der Käpt'n und seine Männer jetzt in der Falle.
Sofort entdeckten sie die spanische Galeone, die im Hafenbecken ankerte. Der Großteil der Schiffsbesatzung war bereits an Land gegangen. An jeder Straßenecke sah man Seeleute in spanischer Uniform. Nachdem Einauge das Schiff eine Weile beobachtet hatte, war er sich sicher, dass nur eine Handvoll Männer als Wachmannschaft an Bord zurückgeblieben war. Hinkebein lächelte zufrieden. Für das Gelingen seines Plans war das enorm wichtig!
Mittlerweile war es vollkommen dunkel. Genau der richtige Zeitpunkt, um Hinkebeins Idee in die Tat umzusetzen.
„Der Schein der Feuer im Hafen reicht nicht bis zum Schiff. Es ist jetzt dunkel genug, um unbemerkt zur spanischen Galeone rudern zu können. Wir klettern an der Ankerkette hinauf an Deck und überwältigen die Wachen. Und auf demselben Weg können wir mit der Statue fliehen“, erklärte Hinkebein das Vorhaben.
Vielleicht würden die Männer sich zur Erinnerung noch einige besonders schön anzusehende Kostbarkeiten aus den Schatzkisten mitnehmen. Den Rest sollten die Spanier behalten.
Doch ganz so einfach, wie Hinkebein es sich ausgedacht hatte, sollte es nicht werden. Die Schwierigkeiten fingen schon damit an, dass sie an keines der Ruderboote herankommen konnten, ohne dabei entdeckt zu werden. Also blieb ihnen nichts anderes übrig, als zum Schiff zu schwimmen.
Hinkebein war kein guter Schwimmer. Sein Holzbein war schuld daran. Klops nahm ihn huckepack und schwamm mit dem Steuermann auf dem Rücken zur Galeone. Als Klops und Hinkebein die Ankerkette hinauf an Deck kletterten, waren der Käpt'n, Einauge und Lulatsch schon an Bord. Lautlos hatten sie fast die gesamte Wachmannschaft überwältigt. Nur noch ein Mann war übrig geblieben.
Doch dann passierte es: Hinkebeins Holzbein verfing sich in einem Tau, das an der Reling befestigt war. Er stürzte und fiel laut polternd an Deck. Der Wachmann erkannte die Gefahr und reagierte sofort. Bevor Klops ihn packen und über Bord werfen
konnte, schrie er „Überfall!“, und läutete mit ganzer Kraft die Alarmglocke.
Die spanischen Soldaten an Land waren augenblicklich auf den Beinen. Man hörte das Platschen, als sie ihre Boote ins Wasser ließen. Es würde nicht lange dauern, bis die ersten bewaffneten Männer das Schiff erreicht hatten.
„Segel setzen und Anker lichten“, befahl Käpt'n Silberbart.
Der Käpt'n und seine Mannschaft hatten keine Zeit zu verlieren. Jetzt war Schnelligkeit gefragt!
Ganz alleine zog der starke Klops die schwere Ankerkette an Bord, obwohl dazu normalerweise drei Männern nötig waren. Und niemand außer Lulatsch hätte es geschafft, in solch einem Tempo zu klettern und das Hauptsegel zu setzten. Als Hinkebein das Steuer übernahm, hatten der Käpt'n und Einauge bereits die spanischen Wachmänner über Bord geworfen und einige der Kanonen geladen. Die ersten bewaffneten Soldaten in ihrem Ruderboot waren dem Schiff bereits sehr nahe gekommen. Der Käpt’n und seine Männer befanden sich fast schon in Schussweite ihrer feuerbereiten Gewehre. Doch dann griff der Wind nach den großen Segeln und die spanische Galeone setzte sich in Bewegung. Man hörte die Männer in den Booten laut fluchen. Egal wie angestrengt sie ruderten, das Schiff konnten sie nicht mehr erreichen.
Der Käpt'n und seine Mannschaft wären jedoch erst dann endgültig in Sicherheit, wenn das Schiff den Hafen verlassen hätte.
„Feuert die Kanonen ab!“, befahl Käpt'n Silberbart, als die Befestigungsanlage in Reichweite ihrer Geschütze kam.
Die Einfahrt ins Hafenbecken war gut bewacht. Mit einem Angriff aus Richtung der Stadt hatte jedoch keiner der Wachsoldaten gerechnet. Die Mündung ihrer Kanonen war aufs offene Meer gerichtet. Noch bevor sie ihre Geschütze auf das vom Käpt'n und seinen Männern gekaperte Schiff ausrichten konnten, hatte die Galeone die Hafendurchfahrt passiert. Und bereits einen Augenblick später wurde sie von der Dunkelheit der nächtlichen See verschluckt. Die Flucht war geglückt!
Ein bitterer Beigeschmack blieb jedoch zurück. Die Seeschwalbe ankerte noch immer in ihrem Versteck in der kleinen Bucht. Und es gab keine Möglichkeit, jetzt dorthin zurückzukehren. Selbst Hinkebein hatte keine Idee, wie sie zur Seeschwalbe kommen könnten, ohne von den Spaniern entdeckt zu werden. Sie mussten ihr Schiff wohl oder übel zurücklassen.
„Wir bringen die Statue zurück zur Insel St. Lucia und verstecken unseren Schatz. Und dann holen wir uns die Seeschwalbe zurück“, entschied Käpt'n Silberbart.
Gut, dass die Männer nicht wussten, wie lange es tatsächlich dauern würde, bis sie zur Seeschwalbe zurückkehren würden. Denn zu dieser Zeit konnte niemand ahnen, welche abenteuerliche Reise dem Käpt'n und seiner Mannschaft bevorstand.