Die Zeit vor dem Schlafengehen ist einer der kostbaren Momente, den wir mit unseren Kindern teilen dürfen.
Kigunage, 2012
Der Abschied von Porto Novo und seinen gastfreundlichen Bewohnern fiel Käpt’n Silberbart und seinen Männer schwer. Zwei Tage hatte die Reparatur ihres Schiffes gedauert, doch die Anstrengung wurde belohnt. Die Seeschwalbe war jetzt schöner als jemals zuvor und von den Sturmschäden war nichts übrig geblieben. Das neue Segeltuch leuchtete hell in der Sonne, als sie aus dem Hafen auf das offene Meer hinaus segelten. Nach dem ersten Tag auf See waren die Gefahren des Unwetters bereits vergessen. Ohne weitere Zwischenfälle erreichten sie das Kap der Guten Hoffnung. Je näher sie der südlichsten Spitze Afrikas kamen, umso angespannter wirkte Hinkebein. Bei ihren früheren Fahrten waren sie schon oft gemeinsam auf dieser Route gesegelt. Käpt’n Silberbart und sein Steuermann kannten daher die Gefahren der Gewässer rund um das Kap.
Bums! Hinkebein fiel der Wasserbecher aus der Hand und landete genau vor den Füßen des Kapitäns.
„Was ist bloß los mit dir? Du bist so schrecklich zappelig heute!“
„Diese Route gefällt mir einfach nicht. Zu viele Riffe. Ich habe dabei kein gutes Gefühl.“
„Du hast recht Hinkebein, diese Route ist nicht ganz ungefährlich, doch wie oft sind wir beide hier schon gesegelt und noch nie ist etwas passiert! Außerdem ist es der kürzeste Weg nach Madagaskar. Wir werden besonders gut aufpassen. Männer, ihr habt gehört, was uns erwartet. Verteilt euch am Bug und haltet die Augen offen!“
Hinkebein vertraute seinem Freund, denn er hatte bislang in allen schwierigen Situationen stets richtig entschieden. Trotzdem war er überaus nervös. Nach den Anweisungen seines Kapitäns steuerte er das Schiff durch die einzelnen, bedrohlichen Riffe hindurch. Einauge, Lulatsch und Klops standen am Bug und meldeten sofort, wenn ein Felsen der Seeschwalbe zu nahe kam. Gemeinsam meisterten sie so, wenn auch langsam, die schwierige Fahrt. Erst als sie es fast schon geschafft hatten, passiert das Unglück.
„Käpt’n Riff in Sicht, ausweichen nach Steuerbord!“, meldete Lulatsch, während Klops gleichzeitig Alarm schlug und rief: „Hinkebein, sofort ausweichen nach Backbord!“
Käpt’n Silberbart rannte von Backbord nach Steuerbord und Hinkebein schüttelte ärgerlich den Kopf.
„Backbord, Steuerbord – was jetzt, Käpt’n?“
Alles ging ganz schnell und schon war es zu spät. Der Schiffsrumpf streifte die spitzen Felsen und es krachte unbeschreiblich laut. Sofort war klar, was passiert sein musste. Das Geräusch von berstendem, zersplitterndem Holz kannte jeder von ihnen. Die Felsspitze hatte ein Leck in die Backbordseite gerissen und nur um Haaresbreite blieb die Steuerbordseite verschont. Augenblicklich liefen Lulatsch und der Käpt’n unter Deck. Das Wasser drang bereits in den Laderaum ein, und hektisch versuchten sie, das Loch zu schließen. Zum Glück war es nicht sehr groß, und bevor all zu viel Wasser eindringen konnte, gelang es ihnen, es zu verstopfen. Bei diesem ganzen Wirbel stieß Lulatsch mit seinen langen Beinen aus Versehen gegen eine der Kisten, die prompt über Bord ging. Es war ausgerechnet die Kiste, in der Käpt’n Silberbart die wertvollen Tauschgegenstände verstaut hatte. Durch den Sturz hatte sie sich geöffnet und alle silbernen Teller und Krüge fielen ins Wasser, versanken und landeten auf den unter ihnen liegenden Felsen. Ausgerechnet ihre Tauschgüter, die sie so dringend brauchten, um sie gegen frische Lebensmittel und Trinkwasser einzutauschen, waren verloren. Mit Geld konnte man meist nichts anfangen, denn es war außerhalb Englands nichts wert.
„Oh je, den Verlust werden wir bestimmt noch einmal bedauern!“, seufzte Hinkebein.
Und obwohl die Gegenstände gut erkennbar auf den Felsen lagen, war es doch viel zu gefährlich und zu tief, um einfach hinabzutauchen und sie zurückzuholen.
„Daran ist jetzt nichts mehr zu ändern. Werft den Anker! Bevor wir weiterfahren, muss das Leck richtig repariert werden“, ordnete der Käpt’n an.
Klops und Lulatsch machten sich zusammen mit Hinkebein an die Arbeit. Der Käpt’n und Einauge blieben derweil an Deck.
„Kommt alle mal her! Das müsst ihr euch ansehen! Solche Tiere habe ich noch nie gesehen“, rief Einauge seinen Freunden zu.
Neugierig erschien einer nach dem anderen an Deck.
„Das sind Seehunde“, erklärte Hinkebein ihm lächelnd. „Diese Tiere sind sehr gute Schwimmer, und wie du siehst, sind sie auch sehr neugierig und verspielt.“
Die Seehunde tauchten unter der Seeschwalbe hindurch und Hinkebein warf einem von ihnen einen Fisch zu. Der Seehund schnappte ihn noch in der Luft und die Männer klatschten bewundernd.
„Seehunde können noch viele andere Kunststücke und sind überhaupt nicht ängstlich.“ Kaum hatte er das ausgesprochen, da kam Hinkebein eine Idee: „Vielleicht können sie uns sogar helfen, die verlorenen Sachen zurückzubekommen. Lulatsch, du hast uns doch mal dieses Kunststück mit dem Teller gezeigt, den du auf deinem Finger gedreht hast. Könntest du versuchen, einen Teller oder Krug auf deiner Nase zu balancieren und ihn dann in einem hohen Bogen in diese leere Kiste werfen? Vielleicht sind die Seehunde verspielt genug, um dir das Kunststück nachzumachen.“
„Klar, versuchen kann ich es einmal“, erwiderte Lulatsch und nahm einen Teller.
Während Lulatsch noch übte, lockten Hinkebein und die anderen die Seehunde mit einigen Fischen wieder in die Nähe des Schiffs. Als sie nah genug herangekommen waren, begann Lulatsch sein Kunststück vorzuführen, zuerst mit dem Teller und dann mit dem Krug.
Beide Male klappte der Trick hervorragend und die Seehunde schauten ihm interessiert zu. Immer wieder aufs Neue wiederholte Lulatsch sein Kunststück, bis der erste Seehund nach einem der versunkenen Teller tauchte und begann Lulatsch nachzuahmen.
Geschickt balancierte er den Teller auf seiner Nase und stieß ihn abschließend in hohem Bogen in die Kiste. Zur Belohnung warf Hinkebein ihm einen Fisch zu. Die anderen Seehunde beobachteten das und gleich wollten alle mitspielen. Immer mehr der verloren geglaubten Sachen landeten in der Kiste und es sah fast so aus als würden die Seehunde darum wetteifern, wer am geschicktesten sei. Jedes Mal belohnten die Männer sie mit einem Fisch und so dauerte es nicht lange, bis alle Gegenstände wieder an Bord waren.
Das alles machte nicht nur den Seehunden Spaß, auch die Männer amüsierten sich und warfen den Seehunden selbst dann noch Fische zu, als sie bereits alles zurückbekommen hatten. Die Seehunde schnappten die Leckerbissen und vollführten noch einige Kunststücke und Sprünge, bevor sie plötzlich sehr schnell verschwanden. Einauge wusste sofort warum und zeigte seinen Freunden die gefährlich große Rückenflosse eines Hais, die nicht allzu weit entfernt von ihnen aus dem Wasser ragte.
„Hoffentlich erwischt er keinen der Seehunde“, wünschte Lulatsch sich und Hinkebein erwiderte zuversichtlich:
„Nein, schau nur - die sind schon fast alle dort drüben auf dem Felsen in Sicherheit. Seehunde sind schlau und diese hier ganz besonders!“
„Auch für uns wird es jetzt Zeit, uns endgültig in Sicherheit zu bringen. Den gefährlichsten Teil der Fahrt haben wir bereits hinter uns, doch ganz geschafft ist es noch nicht. Also, lichtet den Anker!“, forderte der Käpt’n seine Männer auf.
Mit repariertem Leck und allen verloren geglaubten Sachen an Bord setzte die Seeschwalbe ihre Fahrt fort und bald war auch der Rest der gefährlichen Passage geschafft.
„Madagaskar, wir kommen“, rief Hinkebein, der sich ganz besonders darüber freute, diesen Teil der Fahrt hinter sich zu haben.