Gleich nach dem Frühstück sollte Cora den Frosch zurück zum Gartenteich bringen. Das fiel ihr sehr schwer. Nur zu gerne hätte sie ihn als ihren neuen Spielkameraden behalten. Doch das war völlig unmöglich. Cora hatte es Mama versprochen: Heute würde sie ihn zurück in die Natur, zurück in die Freiheit bringen. Und was man versprochen hat, das muss man auch halten!
Mama packte immer noch irgendwelche Umzugskisten aus, Papa tapezierte gerade sein neues Arbeitszimmer und Tim war, wie so oft, bei einem Freund.
Cora würde es ganz alleine machen müssen und leider war es jetzt schon soweit! Traurig nahm sie den Frosch aus der Schüssel, setzte ihn auf ihre Hand und ging in den Garten.
„Bleib weit genug vom Wasser weg, damit du nicht aus Versehen im Teich landest“, rief Mama ihr hinterher.
Große Sorgen machte sie sich nicht, denn ihre Tochter war sehr besonnen und meist viel vorsichtiger, als es überhaupt notwendig war.
„Schade, dass du nicht in meinem Zimmer wohnen darfst“, sagte Cora und streichelte den Frosch vorsichtig. „Wenn du ein Prinz wärst, dann könntest du mit uns im Haus wohnen und Mama hätte bestimmt nichts dagegen.“
Der seltsame Hustensaftgeruch stieg ihr in die Nase, als sie ihre Hand hob und sich den Frosch ganz dicht vors Gesicht hielt.
„Vielleicht werden Märchen manchmal wahr“, dachte Cora, küsste den Frosch und wünschte sich dabei ganz fest, ihren neuen Freund nicht zu verlieren.
Plötzlich wurde ihr ganz schummrig. Alles um sie herum fing an, sich im Kreis zu drehen und es roch penetrant nach diesem ekligen Hustensaft. Kleine schwarze Punkte flimmerten vor ihren Augen und dann, dann war es passiert! Das Unmögliche, Unerklärliche und absolut Unglaubliche!
Nein, nicht das was ihr jetzt denkt! Der Frosch war immer noch ein Frosch und kein Prinz, wie in diesem Märchen. Anstatt den Frosch mit ihrem Kuss zu verwandeln, war es Cora, die verzaubert worden war. Sie war geschrumpft und kaum größer als ihr Frosch!
Cora erschrak fürchterlich. Am liebsten wäre sie sofort aus diesem dichten grünen Dschungel, in dem sie plötzlich stand, geflüchtet und zurück zu ihren Eltern ins Haus gerannt. Aber wie sollte Cora jemals den Weg dorthin finden? So klein wie sie jetzt war, war es für sie hier ganz bestimmt total gefährlich. Als Erstes kam Cora die große Katze des Nachbarn in den Sinn, die gewiss irgendwo in der Nähe auf Mäusejagd war.
Nur gut, dass ihr keine Zeit blieb, lange darüber nachzudenken, denn im selben Augenblick hörte sie hinter sich eine fremde Stimme:
„Hallo Cora. Ich bin es, Felix, der Frosch. Dreh dich doch mal um!“
Cora drehte ihren Kopf und blickte dem Frosch direkt in die Augen. Auch wenn sie es sich nicht erklären konnte: Ihre Angst war urplötzlich wie weggeblasen. Das Einzige, das sie in diesem Moment verspürte, war große Neugierde, was als Nächstes passieren würde.
„Warum kann ich dich verstehen? Frösche können doch überhaupt nicht sprechen! Und warum nur bin ich plötzlich so klein?“, fragte Cora erwartungsvoll.
Eine Antwort blieb Felix ihr nicht lange schuldig.
„Wer sagt, dass Frösche nicht sprechen können? Das ist doch Quak, äh ich meine Quatsch! Die Menschen können uns nur nicht verstehen. Mit Ausnahme von dir, natürlich.“
Das wiederum fand Cora ohne Frage ziemlich toll. Was ihr jedoch entschieden weniger gut gefiel, war ihre jetzige Größe.
„Hast du mich, ohne zu fragen, klein gehext?“, wollte Cora daher von Felix wissen.
„Nein, ich kann nicht zaubern. Das muss einen anderen Grund haben. Ich glaube die Flasche, in der du mich gefunden hast, war etwas ganz Besonderes. Bestimmt wurde früher einmal ein Zauberelixier darin aufbewahrt. Hast du nicht auch diesen sonderbaren Geruch bemerkt? Den werde ich wahrscheinlich in meinem ganzen Leben nicht mehr los! In meiner Flasche konnte ich unter Wasser atmen, nachdem ich zum Frosch geworden war und keine Kiemen, sondern bereits eine Lunge hatte. Ich habe es mir ganz fest gewünscht und dann ist es passiert. So etwas funktioniert nur durch Zauberei!“, antwortete Felix. „Hast du dir vielleicht auch etwas gewünscht, bevor du mich geküsst hast?“
„Ja, ich habe mir gewünscht, dass du mein Freund bleiben kannst. Eigentlich dachte ich, du verwandelst dich in einen Prinzen, so wie im Märchen, aber das habe ich mir nicht ausdrücklich gewünscht.“
„Dann bist du klein gezaubert worden, damit dein Wunsch sich erfüllen kann und du meine Freundin sein kannst. Ich finde es toll, dass du genau so groß bist wie ich und mit mir sprechen kannst. Komm mit, ich zeige dir mein Zuhause, den Teich“, forderte Felix sie auf.
Cora zögerte und ihr Gesicht lief rot an, weil sie sehr verlegen war.
„Tut mir leid. Das geht nicht. Ich kann nicht richtig schwimmen und außerdem bin ich ein Angsthase. Das sagt mein großer Bruder Tim immer zu mir.“
„Das mit dem Schwimmen ist kein Problem. Die Menschen haben es sich von uns Fröschen abgeguckt. Ich bin also der beste Lehrer, den du dir wünschen kannst. Außerdem ist es ziemlich einfach, das werde ich dir beweisen. Was ein Angsthase ist, weiß ich nicht, aber lange Hasenohren und ein Puschelschwänzchen hast du jedenfalls nicht. Da hat dein Bruder bestimmt was verwechselt.“
Das klang für Cora ziemlich logisch. Auch Tim konnte sich schließlich irren.
Normalerweise hätte Cora niemals einen Fuß in das Wasser des Teichs gesetzt, ohne vorher das Einverständnis und die Hilfestellung eines Erwachsenen zu haben. Kein Kind sollte das jemals tun, denn das wäre wirklich sehr gefährlich. Wenn man jedoch verzaubert war, so wie Cora, dann gab es nichts Normales, dann existierten die Regeln nicht mehr, die für Cora sonst so enorm wichtig waren. Alles war mit einem Mal ganz anders und viel einfacher.
„Felix kann viel besser schwimmen als Papa und mir genau so super helfen, da kann mir nichts passieren“, dachte Cora und folgte ihrem neuen Schwimmlehrer ohne Bedenken und ohne die geringste Angst zum Wasser.
Ihren Pulli, ihre Jeans und die Schuhe samt Socken ließ sie auf der Wiese liegen. Zunächst durfte Cora nur so weit in den Teich hinein, dass ihr das Wasser bis zum Bauchnabel reichte.
Als Felix ihr zeigte, wie sie ihre Beine und Arme bewegen sollte, kam ihr das mit einem Mal gar nicht mehr kompliziert vor. Sie musste sich flach aufs Wasser legen und alles nachmachen, was Felix ihr gezeigt hatte. Es war sensationell! Cora konnte sich schon beim zweiten Versuch ohne ihre Schwimmflügel über Wasser halten, und das kinderleicht und ganz ohne Angst.
Durch den Zuspruch ihres neuen Freundes ermutigt, versuchte sie die ersten Schwimmzüge im tieferen Wasser und es klappte auf Anhieb prima.
„Muss wohl auch Zauberei sein“, sagte Cora bescheiden, als Felix sie für diese Leistung lobte.
„Das kann nicht sein, du kannst es einfach“, antwortete Felix. „Und ganz bestimmt kannst du auch tauchen!“
„Nein, kannst du nicht. Du Angsthase weinst immer, wenn dir Wasser ins Gesicht kommt“, hörte Cora die Stimme ihres Bruders plötzlich in ihrem Hinterkopf.
Doch dann war nur noch eine Stimme laut und deutlich zu hören, die ihres neuen Freundes Felix.
„Das ist alles ganz simpel. Tauchen funktioniert genauso wie Schwimmen, nur eben unter Wasser. Du musst einfach tief einatmen, die Luft anhalten und losschwimmen. Ich mache es dir vor.“
Felix tauchte ab. Cora holte tief Luft und wagte den ersten Versuch. Ganz automatisch machte sie unter Wasser die Augen auf. Im ersten Moment war das ein komisches Gefühl, aber es tat nicht weh.
Nach ein paar kräftigen Zügen unter Wasser tauchte Cora wieder auf.
Dann folgte der nächste Versuch, der übernächste, der überübernächste, der überüberübernächste…
Von Mal zu Mal konnte Cora besser die Luft anhalten, und tiefer und weiter tauchen. War das ein schönes Gefühl!
Jetzt zeigte Felix ihr seine Unterwasserwelt. Sie tauchten durch einen Wald von Unterwasserpflanzen, vorbei an großen Steinen und begegneten Tieren, die Cora noch nie zuvor gesehen hatte.
Felix beobachtete Cora ganz genau und sorgte dafür, dass sie rechtzeitig zum Luftholen auftauchte. Obwohl Cora keine Lust hatte, eine Pause zu machen und viel lieber schwimmen und tauchen wollte, musste sie sich, nachdem sie eine Zeit lang getaucht waren, auf einem Seerosenblatt in der Sonne aufwärmen und ausruhen. In dieser Verschnaufpause erzählte Felix ihr von seiner Kindheit und wie er in die Flasche gekommen war.
Zum Abschluss des Badevergnügens durfte Cora sich an Felix festhalten und gemeinsam sausten sie im Rekordtempo durchs Wasser. Das war fantastisch. So etwas Tolles hatte Cora noch nie erlebt.
Dann setzte Felix sie am Ufer ab und Cora zog schnell ihre Kleider an. Nach der langen Zeit im kalten Wasser fror und zitterte sie am ganzen Leib.
Den seltsamen, aber nicht unbekannten Geruch bemerkten Cora und Felix fast gleichzeitig. Noch bevor Cora fragen konnte, wo der unangenehme Duft so plötzlich herkam, war dieses komische Gefühl wieder da. Es stieg von ihren Beinen bis hinauf in ihren Kopf. Die schwarzen Tanzpunkte tauchten vor ihren Augen auf und alles um sie herum drehte sich im Kreis. Wie ein Karussell, schneller und immer schneller.
Dann war es vorbei. Cora lag in ihrer normalen Größe am Rand des Teichs und ihre Beine hingen im Wasser.
Felix hüpfte darauf herum und sagte: „Quak, quak.“
Der Zauber war vorbei. Sie konnte ihn nicht mehr verstehen. Rasch streichelte sie über seinen Kopf und lief ziemlich verwirrt und mit pitschnasser Hose und Schuhen zum Haus.
Als ihre Mutter sie so sah, erschrak sie, denn sie glaubte, Cora sei in den Teich gefallen.
„Es ist alles in Ordnung, Mama. Ich hab nur mit meinem Frosch Felix gespielt“, erklärte Cora ihr ganz selbstbewusst und lachte dabei fröhlich.
Darauf fiel Mama keine Antwort ein. Sie war einfach sprachlos und freute sich insgeheim, dass Cora es geschafft hatte, den Frosch ganz alleine freizulassen. Dann steckte sie ihre Tochter in trockene Kleider und kochte ihr einen heißen Tee.
Beim Zubettgehen erzählte Cora ihrem Papa von Felix und wie er in die Flasche gekommen war. Sie erwähnte natürlich auch das Zauberelixier und erzählte von ihrem Schwimm- und Tauchkurs.
„Du hast wirklich eine blühende Fantasie. Diese Geschichte sollten wir aufschreiben, die ist wirklich prima“, schmunzelte Papa. „Schlaf gut, meine Prinzessin.“
„Von wegen Einbildung“, dachte Cora etwas verärgert, als Papa gegangen war.
„Gleich morgen früh besuche ich Felix. Hoffentlich funktioniert der Zauber dann immer noch.“
Das war Coras letzter Gedanke, bevor ihr die Augen zufielen und sie tief und fest eingeschlafen war.